Die europäische Kunststoffindustrie steht an etlichen Fronten vor Herausforderungen. In der Verpackungsbranche, ihrem bei weitem größten Markt, ist sie als Lieferant des idealen Materials für Einweganwendungen und Menschen, die viel unterwegs sind, zum Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Im Baugewerbe könnten einige Infrastrukturprojekte auf Eis gelegt werden, da die Regierungen einen Teil der Mittel von Infrastrukturprojekten auf die Verteidigung umleiten, obwohl die Geschäfte dadurch angekurbelt werden, dass die Verbraucher Unterstützung bei der Verbesserung der Energieeffizienz ihrer Häuser erhalten. In der Automobilbranche leiden die Zulieferer unter den Produktionskürzungen der Autohersteller - nicht etwa als Reaktion auf rückläufige Nachfrage, sondern weil sie die Chips, die sie für ihre Elektronik benötigen, nicht bekommen können.
Seit Anfang 2019 hat sich COVID-19 stark auf die Produktion ausgewirkt, gelegentlich positiv, meist aber negativ. Und jetzt, wo Europa und der Rest der Welt dabei sind, sich von den verheerenden zwei Jahren der Pandemie zu erholen, kommt die Tragödie des Ukraine-Konflikts hinzu.
Martin Wiesweg, Executive Director Polymers EMEA beim Beratungsunternehmen IHS Markit, sagte zur Lage Ende März, dass die Krise nicht nur eine humanitäre Katastrophe verursache, sondern auch die Kunststoffbranche schwer belaste, da sie die Kosten in die Höhe treibe, Engpässe in der Versorgungskette, einschließlich der Energieversorgung, verschärfe und das Gespenst eines Nachfrageschocks aufkommen lasse, da eine weltweite Stagflation befürchtet wird.
In der EU hat die Inflation im März mit 7,5 % ein Allzeithoch erreicht. Laut Aussage von S&P Global Economics am 30. März wird das Wachstum in der Eurozone in diesem Jahr voraussichtlich 3,3 % betragen, gegenüber 4,4 % laut einer früheren Prognose, und die Inflation in diesem Jahr 5 % erreichen und auch 2023 über 2 % bleiben.
Kunststoffverarbeitung auf Kurs zur Kreislaufwirtschaft
Deutschland ist nach wie vor die „Kraftzentrale“ der europäischen Kunststoffindustrie mit seinen vielfältigen Stärken bei Werkstoffen, Ausrüstung und Verarbeitungsmöglichkeiten. Aber einige Sektoren sind dennoch angeschlagen. Nach Angaben des GKV (Gesamtverband Kunststoffverarbeitende Industrie) stieg der Umsatz der Branche im Jahr 2021 um 12,6 % auf 69,4 Mrd. Euro, aber die Mitgliedsunternehmen stehen weiterhin unter starkem Ergebnisdruck. Der Verband verweist dazu auf eine „exorbitante Kostenexplosion“ bei Rohstoffen und Energie sowie auf die vielen Lieferverzögerungen und daraus resultierenden Auftragsstopps, vor allem in der Automobilzulieferung.
Die Automobilbranche bringt dabei eine einzigartige Problemstellung mit sich. Mehrere europäische Automobilhersteller haben in den letzten Monaten ihre Produktion vorübergehend eingestellt, was erhebliche negative Auswirkungen auf die Lieferkette hatte, einschließlich der dauerhaften Schließung einiger Verarbeitungsbetriebe. Gemäß Angaben des Europäischen Verbandes der Automobilhersteller (ACEA) gingen die Pkw-Zulassungen in der EU-27 im Jahr 2021 um 2,4 % auf knapp unter 10 Mio. Einheiten zurück. Zwar prognostiziert Jincy Varghese, Nachfrageanalystin bei ICIS, dass die Automobilproduktion in der EU im Jahr 2022 um 17 % steigen wird, aber sie wird damit immer noch 26 % unter dem Niveau von 2019 liegen. Eine gesunde Erholung sei erst in der zweiten Jahreshälfte zu erwarten, sagte sie im Februar.
Die gesamtwirtschaftlichen Aussichten bleiben für das Jahr 2022 sehr heterogen, sagte GKV-Präsident Roland Roth auf der jährlichen Bilanzkonferenz des Verbandes Anfang März. Rund die Hälfte der im Vorfeld der Konferenz befragten Verbandsmitglieder rechnete mit einem Umsatzwachstum, ein gutes Viertel erwartete jedoch weitere Rückgänge. Mehrere dächten über Produktionsverlagerungen oder -stilllegungen nach.
Europäische Maschinenbauer in guter Verfassung
Bei den europäischen Kunststoffmaschinenherstellern sieht es besser aus. Thorsten Kühmann, Generalsekretär von EUROMAP, dem europäischen Verband der Hersteller von Kunststoff- und Gummimaschinen, erklärte im März, dass die Auftragsbücher der Mitgliedsunternehmen „bis zum Rand gefüllt seien. Das laufende Jahr wird daher wieder ein sehr gutes Jahr werden. Wir erwarten eine Umsatzsteigerung von 5 bis 10 %.“ Allerdings sorgen auch hier steigende Preise und jetzt der Krieg in der Ukraine für Unsicherheit.
Dario Previero ist Präsident von Amaplast, dem Verband der italienischen Hersteller von Kunststoff- und Gummimaschinen und -formen. Ende des letzten Jahres sagte er: „Unseren Schätzungen zufolge dürfte die Produktion Ende 2021 nur noch um Haaresbreite von den Werten vor der Pandemie entfernt sein und gegenüber 2020 um 11,5 % steigen. Die deutliche Erholung im Jahr 2021 lässt uns für 2022 eine Leistung erwarten, die über dem Vorkrisenniveau liegt“.
Ulrich Reifenhäuser, CSO der Reifenhäuser-Gruppe und zugleich Vorsitzender des K-Ausstellerbeirats, spricht von einem „außerordentlich positiven“ Auftragsbestand für das laufende Jahr. „Wesentlich dazu beigetragen hat die extrem hohe Nachfrage nach unseren Meltblown-Vliesstoffanlagen, die weltweit entscheidend dazu beigetragen haben, dass ausreichend medizinische Schutzmasken zur Pandemiebekämpfung produziert werden können - insbesondere in Europa mit lokalen Produktionskapazitäten.“
Rückblickend auf das abgelaufene Geschäftsjahr des Spritzgießtechnikunternehmens Engel sagte Geschäftsführer Stefan Engleder Mitte März: „Wir beenden ein Jahr mit großen Herausforderungen, aber auch großen Chancen. Wir werden das Geschäftsjahr 2021/2022 mit einer deutlichen Steigerung gegenüber dem Vorjahr abschließen. Materialengpässe sind derzeit eine der größten Herausforderungen. Bisher ist es uns gelungen, Lieferverzögerungen so weit wie möglich zu vermeiden.“
Herausforderungen bei der Verpackung
Die weltweit hohen und steigenden Preise für Kunststoffe bedeuten, dass der Verpackungsmarkt weiterhin unter Druck steht, sagt Liebig. „In Anbetracht der Tatsache, dass Recycling-Granulat jetzt den gleichen Preis hat wie neues Polymer vor 12 Monaten, besteht der Anreiz zum Leichtbau jetzt bei allen Verpackungsmaterialsubstraten, nicht nur bei neuen Polymeren. Wir konzentrieren uns weiterhin auf die Reduzierung des Materialverbrauchs, indem wir den Prozess verbessern und unseren Kunden ermöglichen, immer dünnwandigere Teile herzustellen.“
Der Übergang zu fest verbundenen Verschlüssen (verpflichtend ab 2024 im Rahmen der Einweg-Plastik-Richtlinie, SUPD = Single-Use Plastics Directive) und die Ausweitung der erweiterten Herstellerverantwortung (ab 2023) werden unweigerlich einen starken Einfluss haben, ebenso wie die neue EU-Verpackungsabgabe auf nicht recycelte Verpackungsabfälle, so Liebig. (Seit dem 1. Januar 2021 erhebt die EU von den Mitgliedstaaten eine Abgabe von 0,80 €/kg Kunststoffverpackungsabfall, der nicht recycelt wird. Die Staaten können frei entscheiden, wie sie die Abgabe finanzieren wollen.)
Die europäische Kunststoffindustrie muss sich tatsächlich mit verschiedenen Rechtsvorschriften zum Thema Kunststoffabfälle auseinandersetzen. So gibt es beispielsweise die Vorgabe, dass bis 2030 55 % aller Kunststoffverpackungen in der EU wiederverwertbar sein müssen, sowie die Abgabe auf nicht recycelte Kunststoffverpackungsabfälle. Einige Länder führen auch lokale Rechtsvorschriften ein (z. B. Spanien und Frankreich), so dass die Wettbewerbsbedingungen nicht so einheitlich sind, wie sie sein sollten.
Zum Thema Biokunststoffe sagt der Fachverband European Bioplastics: „Leider erhalten Biokunststoffe in Europa immer noch nicht so viel Unterstützung, wie andere innovative Industrien von den politischen Entscheidungsträgern der EU erhalten. Die EU-Kommission hat teilweise widersprüchliche Positionen zu Biokunststoffen. Auch die Positionen der Mitgliedstaaten zu Biokunststoffen sind sehr unterschiedlich, das regulatorische Umfeld ist alles andere als harmonisiert. Dies schreckt von Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie in Produktionskapazitäten ab“, heißt es.
Trotz dieser Herausforderungen ist die Entwicklung der europäischen Biokunststoffe „sehr positiv. Die weltweiten Produktionskapazitäten machen noch immer weniger als 1 % der mehr als 367 Millionen Tonnen aller Kunststoffe aus, aber bis 2026 wird die Produktion von Biokunststoffen erstmals die 2 %-Marke überschreiten.“ Die Produktionskapazitäten für Biokunststoffe in Europa lagen im Jahr 2021 bei knapp 600.000 Tonnen und werden in den nächsten fünf Jahren voraussichtlich auf rund 1.000.000 Tonnen ansteigen.
Recycling auf dem Vormarsch
„Neue Gesetze und Zielvorgaben für das Recycling von Kunststoffen und die Verwendung von Recyclat verändern die Art und Weise, wie die gesamte Kunststoffindustrie arbeiten muss“, sagt Elizabeth Carroll, Beraterin für Recycling und Nachhaltigkeit bei AMI Consulting in Bristol, Großbritannien, der Beratungsfirma, die einen neuen Bericht über mechanisches Recycling in Europa herausgegeben hat. „Die Branche des werkstofflichen Kunststoffrecyclings ist daher zum Brennpunkt für Investitionen, Übernahmen und Expansion geworden“, sagt sie.
2021 belief sich die Produktion von Kunststoff-Recyclaten in Europa auf 8,2 Millionen Tonnen und wird den Prognosen zufolge bis 2030 um 5,6 % pro Jahr zunehmen. Dem stehen 35,6 Millionen Tonnen Standardkunststoffe gegenüber, die im Jahr 2021 in den Abfallstrom gelangten. „Dies bedeutet, dass Europa insgesamt eine Kunststoffrecyclingrate von 23,1 % erreicht hat“, sagt Carroll. Diese Zahl wird höchstwahrscheinlich noch steigen, da die Kunststoffindustrie umfangreiche Investitionen in verschiedene Recyclingtechnologien tätigt.
Polymeranbieter werden grün
Die europäischen Polymerhersteller unternehmen große Anstrengungen, um die Nachhaltigkeit ihrer Produkte zu verbessern. Richard Roudeix, Senior Vice President - Olefins & Polyolefins Europe, Middle East, Africa and India bei LyondellBasell, einem der größten Hersteller von Polyolefinen und Compounds, erklärt dazu: „Um bis 2050 klimaneutral zu werden, muss die Branche in relativ kurzer Zeit einen tiefgreifenden Wandel vollziehen, vor allem wenn man bedenkt, dass sich einige Technologien zur vollständigen Dekarbonisierung unserer Prozesse noch in frühen Entwicklungsphasen befinden. Derzeit drücken die hohen Energiekosten die Gewinne der Industrie genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Branche zusätzliche Mittel für Investitionen in die Dekarbonisierung benötigt.“
Die Polymerlieferanten sind nicht ganz einer Meinung mit den europäischen Politikern, was den Übergang zu einer grünen Wirtschaft angeht, aber die Meinungen nähern sich an. „LyondellBasell ist der Ansicht, dass alternative staatliche Strategien und freiwillige Maßnahmen effektiver sind als die alleinige Verfolgung von Umweltzielen durch nationale Steuern“, sagt Roudeix. Er schlägt vor, eine von der Recyclingfähigkeit des Produkts abhängige Gebühr zur Finanzierung von Verbesserungen der Infrastruktur und von Programmen für das Kunststoffrecycling zu verwenden.
LyondellBasell hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 jährlich zwei Millionen Tonnen recycelte und erneuerbare Polymere zu produzieren und zu vermarkten. Das Unternehmen hat bereits Kunststoffe auf den Markt gebracht, die aus mechanisch und chemisch recycelten Kunststoffabfällen sowie aus biobasierten Rohstoffen hergestellt werden.
K 2022 – weltweit wichtigste Fachmesse der Branche
Die K in Düsseldorf wird auch in 2022, wie alle drei Jahre, wieder die wichtigste Informations- und Businessplattform der weltweiten Kunststoff- und Kautschukindustrie sein. Nirgendwo ist die Internationalität derart hoch wie in Düsseldorf. Aussteller und Besucher aus der ganzen Welt kommen zusammen und nutzen die Möglichkeiten vom 19. bis 26. Oktober dieses Jahres nicht nur die Leistungsfähigkeit der Branche zu demonstrieren und Innovationen zu präsentieren, sondern sich auch über die Situation der Kunststoff- und Kautschukbranche in den unterschiedlichen Regionen der Welt auszutauschen, aktuelle Trends zu diskutieren und gemeinsam die Weichen für die Zukunft zu stellen.