Dr. Ulla Reutner, freie Fachjournalistin Technik & Industrie
Mit vernetzten Prozessen, einem umfangreichen Informationsportal und ersten Industrie 4.0-Komponenten mit AZO auf dem Weg ins digitale Zeitalter. Die Digitalisierung wird für die Kunststoffindustrie und Kunststoff verarbeitende Industrie schnell zu Mehrwert führen. Höchste Zeit, sich systematisch und konsequent mit den Möglichkeiten der Industrie 4.0 auseinander zu setzen – so wie der Anlagenbauer AZO. Auf Basis sorgfältiger Analyse und Potenzial-Abschätzung resultierten dort bereits einige konkrete Projekte, in denen Industrie 4.0 und ihre Chancen Wirklichkeit wird.
Industrie 4.0 ist in vielen Unternehmen derzeit eine Baustelle, an die sich mancher nicht so recht herantraut. Zwar zeigen erste visionäre Projekte, etwa in den Sektoren Additive Manufacturing, Virtual Reality und Robotertechnik, wohin die Digitalisierung führen kann. Gerade die Kunststoffindustrie und ihre Kunden dürfen sich viel davon versprechen.
Doch die Baustelle sieht für viele derzeit noch recht chaotisch und vor allem riesengroß aus. Wo anfangen? Wer ein Haus bauen will, ein richtig großes mit allen Schikanen, neuster Technik, ausgeklügeltem Energieversorgungskonzept und – für die vielleicht noch ferne Zukunft – barrierefrei, der weiß: An einem Tag ist das nicht geschehen. Ausreichend Zeit sollte man schon allein für die Überlegungen aufwenden, welcher der Träume ganz unbedingt, welcher nur vielleicht und welcher erst später verwirklicht werden soll. Manches muss man von vorne herein vorsehen, anderes lässt sich Jahre später noch problemlos „anbauen“, wenn es nur vorgedacht ist. Und nochmal anderes ist vielleicht nur „nice-to-have“ – da muss der Bauherr sorgfältig abwägen, ob die zur Verfügung stehenden Ressourcen es erlauben, sie dort zu investieren.
Industrie 4.0 in der Compoundierung
Beinahe unendlich viele „Bauherren-Träume“ mag es da in der Kunststoffindustrie geben. Auch im Sektor der Compoundierung, die durch Vernetzung, Big Data, Monitoring und Informationsaustausch immens gewinnen kann: an Qualität, an Effizienz und am Ende an Gewinn – für die Unternehmen wie für die Gesellschaft. Das zeigen erste Projekte des Maschinenbauers AZO, etwa eines zusammen mit dem auf Kabel-Compounds spezialisierten Schweizer Unternehmen Huber+Suhner. Zur Realisierung seiner Nullfehlerstrategie setzt Huber+ Suhner zusammen mit Anlagen- und Automatisierungstechnik von AZO bereits 2011 Methoden ein, welche in vieler Hinsicht Industrie 4.0 schon sehr nah sind. https://www.youtube.com/watch?v=2QNBl3coWu0
Industrie 4.0-Elemente auf ihre Wirksamkeit zu testen, bevor das ganze Gebilde durchdekliniert ist, ist legitim. Ebenso legitim, wie es für einen Bauherrn eines Einfamilienhauses wäre, schon einmal eine moderne Methode der Energieversorgung am alten Wohnsitz zu testen. Doch das erspart ihm nicht die gründliche Überlegung, wie er sein neues Haus mit all seinen Elementen konzipieren will. Angesichts der guten Erfahrungen mit Industrie 4.0-Werkzeugen trat auch das AZO-Management einen Schritt zurück, um eine übergreifende Perspektive über Industrie 4.0 zu bekommen: Was ist sinnvoll? Was ist – angesichts bestehender Ressourcen und Fähigkeiten – machbar? Welche Projekte sind dafür aufzusetzen? Und welche zeitliche Abfolge und Priorität misst man den einzelnen Projekten zu?
Gute Basis – und überlegte Schritte geleitet von den 4 P
Bild 1: AZO definiert die 4Pals Zielrichtung zur Umsetzungvon Industrie 4.0 |
Ein starkes Fundament für die Zukunft mit Industrie 4.0 sollte so entstehen. Dafür gab es einen gut bestellten Boden – ein erschlossenes Grundstück sozusagen. Dieter Herzig, Geschäftsführer von AZO Controls, betont: „Bereits seit 2006 beschäftigen wir uns mit Methoden wie dem integrierten Engineering oder Tracking & Tracing, die heute unter Industrie 4.0 subsummiert werden.“ Darauf konnte die Geschäftsleitung bauen, als sie 2014 die Frage stellte: Was bedeutet Industrie 4.0 für AZO und seine Kunden? Der „Leitfaden Industrie 4.0 für den Mittelstand“ des VDMA sollte als Wegweiser für die Projekte des Unternehmens dienen. Karl-Heinz Bußbach, Leiter des Geschäftsbereichs AZO Poly blickt zurück: „Anfang 2015 haben wir konkret damit begonnen. Wir haben uns zunächst einen externen Partner gesucht, der uns dabei unterstützen sollte, eine neue Denkweise ins Unternehmen einziehen zu lassen.“ Der gewählte Partner KIT, das Karlsruher Institut für Technologie hatte bereits an der Erstellung des VDMA-Leitfadens I40 mitgewirkt. AZO entschied sich also für Experten-Input von außen, anstelle der Alternative, mithilfe einer vom VDMA angebotenen Train-the-Trainer-Maßnahme den ganzen Prozess selbst zu moderieren. Bußbach: „Damit bekamen wir zusätzlich einen unvoreingenommenen Blick der KIT-Experten.“
Horizontale und vertikale Integration, durchgängiges Engineering und nicht zu vergessen der Mensch als Dirigent der Wertschöpfung sind für jedes Unternehmen auf dem Weg zu Industrie 4.0 wichtige Eckpfeiler. Leiten lassen will sich AZO, so die im Workshop definierte Zielrichtung, von den 4P: Produktion und Produkte der Kunden sowie Produktion und Produkte von AZO selbst. Darüber hinaus gilt es neue Business Modelle zu entwickeln. Bußbach sagt: „Mit zunehmender Digitalisierung erwarten das immer mehr Kunden der Kunststoffindustrie, aber auch in anderen Märkten, von uns.“ (Bild 1)
Praktikable VDMA-Werkzeugkästen…
Bild 2: Werkzeugkästen Industrie 4.0 des VDMA |
Doch bevor man etwas entwickeln oder neu ausrichten kann, sollte man wissen, wo man steht. Dazu nutzte AZO die sogenannten Werkzeugkästen Industrie 4.0 des VDMA. Für Produkte und Produktion bieten sie jeweils sechs Kriterien mit fünf Levels, die die Einordnung im Hinblick auf Industrie 4.0 erlauben. Beispielsweise die Ausprägung integrierter Sensorik: Auf Level 1 wären Produkte ohne jede Sensorik einzuordnen, auf Level 2 solche mit eingebundenen Sensoren, Level 3 verdienen Produkte, die die Sensordaten auch selbst verarbeiten, Level 4 solche, die die Daten auch selbst für Analysen auswerten und dem höchsten Level 5 werden schließlich Produkte zugeschlagen, die eigenständig auf Basis der gewonnenen Daten reagieren. Durchaus wichtige Kriterien für etliche der komplexen Maschinen, die AZO im Produktportfolio für die Kunststoffindustrie hat. So kann etwa eine pneumatische Saugförderung, ausgerüstet mit zusätzlicher Sensorik, ihren optimalen Betriebspunkt in Abhängigkeit von der Rohstoffbeschaffenheit selbst finden. Ebenso gelingt es, zum Beispiel aus Veränderungen des Differenzdrucks oder einem Anstieg von Feinstaub in der Reinluft Wartungsmaßnahmen im Sinne von Condition Monitoring und Predictive Maintenance besser zu planen. (Bild 2)
…doch das Thema Engineering kommt zu kurz
AZO bewertet die Werkzeugkästen als durchaus hilfreich, wenn auch „der Aspekt Engineering nicht mit abgebildet wird“, kritisiert Herzig. „Gerade im Engineering steckt im Anlagenbau sehr viel Wertschöpfung.“ Dennoch konnte AZO nach einer gründlichen Vorbereitung mit Hilfe der Werkzeugkästen eine gründliche Analyse seiner Produkte vornehmen. „Nach der Einstufung unserer Produkte einigten wir uns auf einige wichtige Handlungsfelder zur Weiterentwicklung“, erklärt Bußbach, „wir wollten jedoch nicht sofort alle sechs Bereiche des Werkzeugkastens angreifen, sondern mit ausgewählten Themen und mit überschaubaren Schritten vorwärts gehen.“ Neben dem Kriterium „Integration von Sensoren/Aktoren“ machte der Osterburkener Anlagenbauer vor allem Vernetzung und Kommunikation als wesentliches Handlungsfeld aus. Auch Themen wie Monitoring und Datenspeicherung treibt AZO weiter voran, obwohl sich das Unternehmen dort im Hinblick auf Industrie 4.0 bereits gut positioniert sieht.
Bis Produkte im Sinne von Industrie 4.0 weiterentwickelt werden können, ist in Phase 3 des Industrie 4.0-Projekts Kreativität gefragt. Die soll schlussendlich in ein neues Produkt oder Business Modell münden, was voraussetzt, dass Ideen auf ihr Marktpotenzial, ihren Nutzen und die Durchführbarkeit abgeklopft werden – die Phase 4 des Projekts. AZO nutzte zur Bewertung den im VDMA-Leitfaden empfohlenen St. Gallen Business Model Navigator, der all diese Kriterien beleuchtet. Ideen, die ein hohes Marktpotenzial versprachen, aber für die die bestehenden Ressourcen als zu knapp bewertet wurden, wurden ebenso aussortiert, wie Ideen, die zwar als relativ leicht durchführbar galten, aber zu wenig Mehrwert für AZO und seine Kunden führen würden.
Mehrwert, Marktpotenzial, Durchführbarkeit sorgfältig abgewogen
Bild 3:In Workshopswerden die Ideen auf ihr Marktpotenzial, ihren Nutzenund die Durchführbarkeit abgeklopft |
Wer einen Blick auf die Pinnwand wirft (Bild 3), die das AZO-Projektteam damals für Generierung und Clusterung nutzte sieht schnell: Die Zusammenarbeit mit dem KIT aktivierte Energien; an Ideen fehlte es nicht. Gerade für einen Mittelständler ist es jedoch wichtig, sich für die letzte Phase des Prozesses, die eigentliche Umsetzung, zu fokussieren: auf Themen, die in der Matrix aus Potenzial und Stärken möglichst weit oben rechts stehen. So identifizierte AZO schließlich fünf Projekte, von denen heute bereits vier aktiv umgesetzt werden: Integriertes Engineering, Pneumatische Förderung 4.0, eindeutige Produkt-Kennzeichnung und die Siebmaschine als I4.0-Komponente. (Bild 4)
Integriertes Engineering generiere sofort einen Mehrwert im eigenen Unternehmen und wirke sich für Kunden positiv aus, so der Bereichsleiter Kunststofftechnik: „Das Engineering wird so nicht nur schneller und kostengünstiger; wir können so dem Kunden auch wertvolle Information zur Verfügung stellen.“
Mehrwert aus der Kombination von Identtechnik, mobilen Endgeräten und Informationsportal
Bild 4: Matrix aus Potential und Stärken zur Identifizierung welche Industrie 4.0-Projekte bei AZO weiterverfolgt werden |
Relativ leicht wirkt auch die Umsetzung des Projekts „eindeutige Kennzeichnung“. Bei AZO bedeutet das, eingebaute Anlagenteile jederzeit identifizieren und mit Informationen zu ihrem Lebenszyklus verbinden zu können. Bußbach detailliert: „Ob über QR-Code, Barcode, RFID oder ein Typenschild, das ich abfotografiere – wenn ein Informationsportal dahintersteht, erhält man schnell wertvolle Informationen zu jedem Bauteil.“ Wann war der letzte Filterwechsel? Welches Produkt ist im Moment in einem bestimmten Abscheider? Welche Einzelteile sind in einer Komponente verbaut – welcher Motor im Rührwerk, welche Schnecke in der Dosierwaage? Man kann sich vorstellen, dass das geforderte Informationsportal bei einem Anlagenbauer sehr komplex wird. AZO will dieses Projekt dennoch mit Hochdruck vorantreiben. Der komplette Servicebereich mit wichtigen Anlagendaten soll bald auch für den Betreiber verfügbar sein. „Bereits realisiert haben wir die Vernetzung der einzelnen Steuerungssysteme“, schildert Herzig. „Hier arbeiten wir nun auf die Umsetzung auf OPC-UA, um damit eine strukturierte Datenbasis zu erreichen.“ Konkrete Neuerungen zu Industrie 4.0 verspricht Karl-Heinz Bußbach zur K-Messe im Oktober 2016.
Eine Industrie 4.0-Komponente steht ebenfalls auf dem Projektplan zur Umsetzung an. Wie hat AZO definiert, welches Produkt mit zusätzlicher Sensorik und Intelligenz ausgestattet werden soll? Bußbach erläutert: „Wir haben uns gefragt: Wo ist der Mehrwert für unsere Kunden und uns? Bei welchen Produkten ist er am höchsten? Wollen das unsere Kunden überhaupt? Und hat unsere Entwicklung die Ressourcen, das umzusetzen?“ Mindestens eines der 4 P – Produkte oder Produktion von AZO oder die seiner Kunden – müsste nachhaltig vom Plus an Intelligenz profitieren, damit AZO die Entwicklung im Hinblick auf I4.0 nachhaltig vorantreibt.
Datenhandel innerhalb der Anlagenkette
Auch das RAMI-4.0-Modell, eine Referenzarchitektur für Industrie 4.0, wurde dabei intensiv genutzt. Automatisierungsexperte Herzig schildert: „Wir haben uns gedanklich auf die verschiedenen Layer gesetzt und uns gefragt: Welche Frage könnte dieser Layer an unser Gerät haben.“ So gewann man überraschende Erkenntnisse, etwa, dass es sinnvoll sein könnte, einen Feuchtesensor einzubauen, obwohl an dieser Stelle des Prozesses die Feuchte keine Rolle spielt. „Doch wir können sie an dieser Stelle im Produktstrom auf einfache Art und Weise bestimmen“, erläutert Herzig, „und den Wert an ein anderes Equipment ,verkaufen‘, der aus dem Feuchtewert eine nutzbringende Information ableiten kann.“
Industrie 4.0-System „Intelligente Förderung“
Das mag sich nach Zukunftsmusik anhören. Doch AZO ist mit seiner ersten In - dus trie 4.0-Komponente schon in der Realität angekommen: Die selbstoptimierende pneumatische Förderung könnte schon bald von den ersten Kunden genutzt werden. Die Daten, die dazu benötigt werden, sind zum Teil auch bei bestehenden Anlagen vorhanden: Sie resultieren aus der Auslegung der Förderanlage. Zudem sind beispielsweise die physikalischen Grunddaten über den gerade geförderten Rohstoff von Vorteil, um mit den richtigen Grundeinstellungen zu starten. Für die intelligente Förderung im Sinne von I4.0 ist dann noch Zusatzsensorik nötig. Ziel ist, dass sich Luftmenge und Schleusendrehzahl immer automatisch auf den optimalen Betriebspunkt einstellen. Das senkt die Betriebskosten und reduziert Inbetriebnahmezeiten. Durch Condition Monitoring wird auch Predictive Maintenance möglich, was die Verfügbarkeit der Anlage weiter erhöht. (Bild 5 und 6)
Zusätzliche Intelligenz wird auch in die Differenzial-Dosierwaage einziehen, ist Bußbach überzeugt. Der Mehrwert? Bußbach erläutert: „Wir können beispielsweise aus Veränderungen in der Schüttdichte, in Verbindung mit anderen Daten wie etwa Schneckendrehzahl, Rückschlüsse auf mögliche Systemfehler ziehen: etwa ein Zuwachsen der Schnecke. Auch Parameter wie die Nachfüllpunkte können so automatisch justiert werden.“
Wegbereiter in die digitale Zukunft
Noch steht viel Arbeit an, Arbeit für Jahre, bis alle AZO-Produkte und -Prozesse im Hinblick auf integrierte Sensorik, Kommunikationsfähigkeit und andere I4.0-Merkmale unter die Lupe genommen und gegebenenfalls verbessert wurden. Als Performance-Anbieter will man so selbstverständlich dem Wettbewerb ein Stück voraus sein. Der größte Nutzen, da sind sich Herzig und Bußbach einig, resultiert jedoch, wenn Anlagenbauer und -betreiber eine übergreifende Perspektive einnehmen und danach fragen, welche Informationen für vor- oder nachgeschaltete Systeme wichtig sind. Bußbach hebt hervor: „Alle Hersteller müssen sich Gedanken machen, welche Datenschnittstellen sie in Zukunft zur Verfügung stellen.“ Auch, wenn Industrie 4.0 noch in den Anfängen ist – Anlagen- und Maschinenbauer wie AZO, die sich von der Komplexität nicht abschrecken lassen, sondern gut überlegt systematisch die ersten I4.0-Projekte umsetzen, werden die Wegbereiter in das digitale Zeitalter sein.
Bild 5 und 6:Voraussetzungen für eineintelligente Förderung: Auslegungssoftware und zusätzliche Sensorik |